Das Giacometti-Experiment: Wie Bilder unser Essverhalten unbewusst steuern
Das Giacometti-Experiment mit überschlanken Bronzefiguren und süsser Schokolade zeigt, wie stark visuelle Reize unser Essverhalten beeinflussen – ob am Snack-Automaten oder vor dem Kühlschrank.

Angefangen hat alles mit dem Schweizer Psychologen Thomas Brunner, mit ein paar Tafeln Schokolade und einer Schweizer 100-Franken-Banknote. Auf dieser sind die überschlanken Bronzefiguren des Schweizer Bildhauers Alberto Giacometti abgebildet.

Thomas Brunner fragte sich, ob diese überschlanken Figuren das Ernährungsverhalten von KonsumentInnen beeinflussen. Deshalb konzipierte der Professor für Konsumenten-Verhalten an der Schweizer Fachhochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften BFH-HAFL in Bern das Giacometti-Experiment.
In drei Teilstudien untersuchte der Psychologe Thomas Brunner mit seinem Team das Konsumverhalten:
an einem Snack-Automaten
bei einer Schokoladendegustation
in einer Langzeitstudie
Jede dieser drei Studien beleuchtete, wie Motivation und äussere Einflüsse unsere Ernährungsentscheidungen beeinflussen.

Überschlanke Figuren beeinflussen unsere Entscheidungen am Snack-Automaten
Die überschlanken Bronzefiguren des bedeutendsten Bildhauers des 20. Jahrhunderts stehen etwas ausserhalb des Budgets einer Hochschule. Alberto Giacomettis «Zeigender Mann» kostete an einer Auktion 141 Millionen US-Dollar. Deshalb musste sich der Professor für sein Experiment mit einem Foto begnügen.
Dieses Bild der überschlanken Giacometti-Figuren platzierte Thomas Brunner über einem Snack-Automaten, der sowohl ungesunde Snacks wie Schokoriegel als auch gesunde Optionen wie Müesliriegel enthielt.
Es hat einen gewissen Charme, dass Thomas Brunner ausgerechnet den Snack-Automaten im Schweizer Bundesamt für Gesundheit BAG für das Experiment auswählte. «Vor dem Experiment kauften auch im BAG nur 20 Prozent der Mitarbeitenden gesunde Snacks, dagegen 80 Prozent Schokoriegel und Chips.»

Während des Experiments kauften die Mitarbeitenden 252 Snacks – deutlich mehr gesunde Optionen als zuvor: Schon ein kurzer Blick auf die Figuren über dem Automaten führte dazu, dass der Verkauf gesunder Snacks auf 60 Prozent stieg.
«Mit den überschlanken Figuren rückt das Motiv Gewicht und Gewichtskontrolle bei unseren Essensentscheidungen in den Vordergrund und beeinflusst unser Verhalten», erklärt Thomas Brunner diesen Giacometti-Effekt.
Dass der Unterschied aber gleich so gross war, erstaunte auch den Psychologen. Brunner vermutet, «dass die Mitarbeitenden des BAG durch ihren Beruf, aber auch persönlich besonders empfänglich für Gesundheitsthemen sind, zu denen auch das Körpergewicht gehört».

Auch bei der Schokoladendegustation beeinflussen überschlanke Figuren das Verhalten
Bei den anderen beiden Teilstudien setzte der Psychologe neben den überschlanken Giacometti-Figuren ein Bild des Expressionisten Mark Rothko ein, dessen abstrakte Farbfeldmalerei für ihre Intensität und Tiefe bekannt ist. Für Kunstbanausen: drei Farbflecke auf einer Leinwand, die an einer Auktion 186 Millionen US-Dollar kosteten.
Bei der zweiten Teilstudie durften 96 Teilnehmende nach Herzenslust Schokolade testen. Auf dem Weg zum Tisch mit der Schokolade ging die eine Hälfte der Teilnehmenden an den überschlanken Giacometti-Figuren vorbei, die andere Hälfte an den abstrakten Farbflecken von Rothko.
Nach den Resultaten der ersten Teilstudie war es keine Überraschung: Die Giacometti-Gruppe ass daraufhin deutlich weniger Schokolade. Besonders interessant findet Thomas Brunner, «dass die Teilnehmenden beider Gruppen überzeugt waren, dass sie sich von den Bildern nicht hatte beeinflussen lassen».
Unser Hirn kann sogar ein abstraktes Bild mit dem Willen zum Abnehmen verbinden
Bei der dritten Teilstudie erhielten 107 abnehmwillige Teilnehmende ein Büchlein nach Hause. Die eine Hälfte erhielt ein Büchlein mit einem Bild von Rothko, die andere Hälfte mit dem Bild einer Giacometti-Figur. In beiden Gruppen wurde wiederum je eine Hälfte der Teilnehmenden über den Effekt von Bildern informiert, die andere nicht.
Nach sechs Monaten stellte Thomas Brunner fest: Auch hier beeinflussten die überschlanken Giacometti-Figuren das Essverhalten unabhängig vom Wissen. Ungewöhnlich findet der Psychologe bei dieser Teilstudie, dass auch die Farbflecken von Rothko wirkten, «wenn die Teilnehmenden den Zusammenhang mit Gesundheit gelernt hatten.»

Mit dem Giacometti-Effekt können KonsumentInnen ihr Essverhalten am Kühlschrank beeinflussen
Dieser unbewusste Giacometti-Effekt ist in der Psychologie als «Priming» bekannt: Ein vorangegangener Reiz (zum Beispiel ein Bild) beeinflusst unser Denken oder Verhalten, ohne dass wir es bewusst merken. Beim Anblick der überschlanken Giacometti-Figuren essen wir unbewusst weniger.
Im Unterschied zu anderen Studien können wir das Giacometti-Experiment von der Schweizer Fachhochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften BFH-HAFL zu Hause am eigenen Kühlschrank in die Praxis umsetzen.
Wer sich mit den überschlanken Figuren von Augusto Giacometti nicht anfreunden kann, für den gibt es Bilder von Amedeo Modigliani, El Greco oder Gustav Klimt mit schlanken Silhouetten.
«Ein einfaches Bild am Kühlschrank könnte der erste Schritt zu gesünderen Entscheidungen sein – das Giacometti-Experiment zeigt, wie wirkungsvoll das sein kann», erklärt Thomas Brunner.


