Leaf to Root statt Food Waste: Esther Kern nutzt Gemüse vom Blatt bis zur Wurzel
Food-Journalistin Esther Kern kocht Gemüse vom Blatt bis zur Wurzel. Analog zu «Nose to Tail» beim Fleisch spricht sie von «Leaf to Root». So reduziert sie Food Waste – ohne moralischen Zeigefinger.

Kurz & bündig
Esther Kern zeigt mit «Leaf to Root», wie viel Geschmack in den Teilen eines Gemüses steckt, die sonst im Abfall landen.
Ein Bund Karotten-Kraut wird zum Ausgangspunkt einer Bewegung, die zurückführt zu verlorenem Küchenwissen.
Vom Garten bis in die Küche wird sichtbar, wie «Leaf to Root» Neugier, Erfahrung und Systemdenken verbindet.
Am Ende steht keine Moral, sondern der einfache Satz: Man sollte wissen, was man wegwirft.
Ein kühler Herbsttag im Garten. Der Boden ist dunkel und satt, die letzten Karotten stehen zur Ernte bereit. Esther Kern blickt weniger auf die Wurzel als auf das, was darüber wächst: das Karotten-Kraut.
Sie greift ins Kraut, zieht eine Pflanze heraus und schüttelt die Erde ab. Die Blätter hängen wie ein zarter, grüner Federbusch in der Luft. Sie reicht mir ein Blatt. Ich zerreibe es zwischen den Fingern und stecke es in den Mund. Es schmeckt bitter und grasig, nach Sellerie und Petersilie.
«Das ist kein Abfall», sagte sich Esther Kern schon 2014. Befreundete Köche gaben ihr ein Rezept für ein Karotten-Kraut-Pesto mit Olivenöl, Parmesan, gehackten und gerösteten Haselnüssen (statt Pinienkernen), Salz und Pfeffer.
Das war der Beginn von Leaf to Root als Bewegung, die mehr ist als ein Rezeptbuch. Sie hat Auswirkungen auf Anbau, Sortenwahl und Handel (siehe das Schluss-Kapitel «Welche Bedeutung hat Leaf to Root für die Ernährungswende?»)
Auch aus Fenchel-Kraut bereitet sie mittlerweile ein Pesto zu. «Das ist für mich das beste Pesto überhaupt», wird sie am Abend in der Stadtbibliothek an einer Lesung erzählen.

Von der Bauernküche zu den Spitzenköchen: Nichts landet im Abfall
Esther Kern wuchs auf einem Bauernhof bei Zürich auf. Essen begann im Boden und endete auf dem Tisch, – nie im Müll. Ihre Mutter kochte Nose to Tail, lange bevor jemand den Begriff kannte. Nichts landete im Abfall. Die Blätter wurden den Hasen verfüttert – die dann später Nose to Tail gegessen wurden.
Viele Jahre später blickte sie als Food-Journalistin Spitzenköchen über die Schulter. Diese arbeiteten mit Teilen, die in der gehobenen Küche kaum jemand erwartete: Kohlrabi-Blätter, Spargel-Schalen, die helle Innenhaut der Wassermelonen-Schale.
Viele erwähnten das nur beiläufig. Für sie war es Routine. Für Kern zeigte das, wie sehr das kulinarische Wissen ausserhalb der kleinen Szene der Küchen-Profis vergessen und verkümmert ist.

Blätter und Wurzeln schmecken oft ungewohnt – aber oft intensiver als das eigentliche Gemüse
Am Abend steht Esther Kern in der Stadtbibliothek und erzählt dreissig ZuhörerInnen von ihren Erfahrungen. Vor ihr liegen fein sortierte Häufchen aus Blättern, Schalen und Stielen. Es riecht nach Gemüsegarten. Zwischendurch reicht sie kleine Kostproben in die Runde:
Fenchel-Kraut: intensiver, anisiger als die Knolle. «Ideal für ein Pesto mit Mandeln und Zitrone.»
Radieschen-Blätter: scharf wie wilder Rucola.
Kohlrabi-Blätter: im Ofen knusprig gebacken.
«Die Blätter und Wurzeln enthalten oft mehr Bitterstoffe als die Knollen oder Früchte», sagt Kern. Manches überzeugt die Zuhörerinnen sofort. Anderes ist ungewohnt – und einiges sollte man besser gar nicht erst probieren. Kartoffel-Keime etwa. «Das macht man nur einmal», sagt Kern. Mehr muss sie nicht erklären.
Unsere Vorfahren hatten keine Wahl: Sie testeten sich quer durch den Gemüsegarten. Was essbar war, wurde in die Küche weitergegeben. Was schädlich war, verursachte im besten Fall nur Magenkrämpfe. Ein proto-wissenschaftliches Peer Review mit relativ hohen Ausfallquoten.
Deshalb liessen Mönche in den Klöstern unbekannte Pflanzen zuerst von Hühnern probieren. Hühner picken fast alles und zeigen schnell Vergiftungssymptome. Wenn die Hühner nach einer Stunde noch lebten, kam das Grünzeug in die Klosterküche.
Vom Blatt bis zur Wurzel essen heisst abwägen, kein Alles-essen-um-jeden-Preis
Kern kennt die Grenzen. Im Kartoffel-Grün steckt Solanin. In Blattrippen von Gemüse sammelt sich Nitrat. Auf selten genutzten Pflanzenteilen finden sich oft Pflanzenschutzmittel-Rückstände, weil der Handel sie bisher nicht prüft.
Sie rät deshalb zu Bio-Gemüse oder solchem aus dem eigenen Garten, weil dort klar ist, wie die Pflanzen gewachsen sind.
Leaf to Root versteht Esther Kern nicht als Dogma. Kein Alles-essen-um-jeden-Preis. Man muss auch in der Küche wissen, was man tut.
Dieser nüchterne Blick trägt die Bewegung. Leaf to Root bleibt nur glaubwürdig, wenn man Grenzen setzt – auch dem eigenen Enthusiasmus.

Wie unterscheiden sich die beiden «Leaf to Root»-Bücher und «Taste not Waste»?
2014 bündelte Kern ihre Recherchen, Notizen und Rezepte. Sie hatte genug Material für Kolumnen, Artikel, Workshops. Und für das Buch «Leaf to Root – Gemüse essen vom Blatt bis zur Wurzel», das international ausgezeichnet wurde und heute ein Standardwerk ist.
Im Herbst 2025 folgte die Fortsetzung «Leaf to Root – Express» und im Januar 2026 kommt «Taste not Waste», das von Brotwürfeln bis Zitronenschalen zeigt, wie wertvoll Küchenreste sein können.
«Leaf to Root – Gemüse essen vom Blatt bis zur Wurzel»
Das erste Buch «Leaf to Root – Gemüse essen vom Blatt bis zur Wurzel» liest sich wie ein geöffnetes Forschungsjournal. Kern untersucht rund fünfzig Gemüsepflanzen von der Wurzel bis ins Blattund zeigt zusammen mit Koch Pascal Haag, wie viel Potenzial in Schale, Stängeln und Grün steckt.
Es ist ein Arbeitsbuch: analytisch, präzise, nah an der Praxis. Wer verstehen will, warum viele Pflanzenteile früher selbstverständlich waren und heute kaum noch genutzt werden, findet hier die Grundlagen der Bewegung.
«Leaf to Root – Express»
Der praktische Ableger «Leaf to Root – Express» richtet sich an die Küche unter der Woche. Kern konzentriert sich auf Teile, die beim Rüsten wirklich anfallen: Kohlrabi-Blätter, Apfel-Schalen, Radieschen-Blätter, die helle Schicht der Wassermelonen-Schale.
Die Rezepte gelingen schnell und unkompliziert. Gast-KöchInnen steuern klare, unprätentiöse Ideen bei. Kurze Hinweise zu Giftigkeit und Wirkung einzelner Pflanzenteile machen das Buch zu einer kleinen Pflanzenkunde für den Alltag.
«Taste not Waste. Weil Reste und Abschnitte Gold wert sind»
Das dritte Buch «Taste not Waste» erweitert den Blick über Gemüse hinaus auf alle Küchenreste – vom Brotkanten bis zur Orangenschale. Kern zeigt Methoden und Rezepte, die Reste in vollwertige Gerichte verwandeln.
Gemeinsam mit Köchinnen und Köchen der Responsible Hotels of Switzerland entwickelt sie alltagstaugliche und professionelle Lösungen. Kompakte Einordnungen zu Haltbarkeit, Hygiene und Nährstoffen machen das Buch zu einer praktischen Schule der Resteküche.

Welche Bedeutung hat Leaf to Root für die Ernährungswende?
Leaf to Root verändert nicht Rezepte, sondern die Logik des Ernährungssystems. Wenn eine Pflanze wieder als Ganzes zählt, verändert sich der Fokus: Sortenwahl, Anbau, Lagerung und Handel richten sich heute nur nach der vermeintlich perfekten Knolle oder Frucht – und nicht nach der Qualität von Blatt, Stängel und Schale.
Diese Sicht bricht die Standardisierung auf. Sie stärkt robuste Sorten und macht Rückstände auf bisher ignorierten Pflanzenteilen sichtbar.
Die KonsumentInnen gewinnen mit Leaf to Root Wissen statt Convenience (Bequemlichkeit). «Mit jeder bewussten Entscheidung wächst die Nachfrage nach Gemüse, das als vollständige Pflanze gedacht ist», sagt Esther Kern. «Mir ist es ein Anliegen, dass die Wertschätzung für frisches Gemüse wächst.»
Leaf to Root wirkt leise, aber konsequent – und verändert das Ernährungssystem an vielen Stellen. Leaf to Root macht einen blinden Fleck im Ernährungssystem sichtbar.
Esther Kern verbindet ihre bäuerliche Herkunft mit ihrem Blick auf kulinarische Bildung und Landwirtschaft. «Man muss nicht alles nutzen», sagt sie. «Aber man sollte wissen, was man wegwirft.»
Bibliografische Angaben

«Leaf to Root: Gemüse essen vom Blatt bis zur Wurzel»
von Esther Kern (Autorin), Pascal Haag (Autor), Stefan Haas (Designer), Sylvan Müller (Fotograf)
AT Verlag, Aarau und München 2016, 320 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-03800-904-7
CHF 65.00
«Leaf to Root – Express»
von Esther Kern (Autorin) und Linda Kastrati (Fotografin)
AT Verlag, Aarau und München 2025, 296 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-03902-262-5
CHF 42.00

«Taste not Waste. Weil Reste und Abschnitte Gold wert sind»
von Esther Kern mit Rezepten von KöchInnen der Responsible Hotels of Switzerland.
AT Verlag, Aarau und München 2025, 288 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-03902-271-7
59.00 CHF
Erscheint voraussichtlich Januar 2026



