Direktsaat oder Pflug? Seit 1994 läuft auf dem Oberacker ein Langzeit-Experiment
Auf dem Oberacker bei Bern läuft seit 1994 ein Jahrhundert-Versuch: Wie sieht die Zukunft der Landwirtschaft aus? Bearbeiten Landwirte den Boden wie bisher mit dem Pflug oder pfluglos mit Direktsaat?

Kurz & bündig
Auf dem unscheinbaren Oberacker bei Bern wird seit 1994 geforscht, wie die Landwirtschaft der Zukunft aussieht – mit Pflug oder pfluglos mit Direktsaat.
Bodenexperte Andreas Chervet liest im Boden wie in einem offenen Buch: Regenwürmer, Krümel, Wurzeln verraten ihm, wie gesund die Erde ist.
Die Versuche auf dem Oberacker über drei Jahrzehnten zeigen, wie die Landwirtschaft der Zukunft gesunde Lebensmittel produzieren kann.
Was hier wächst, betrifft uns alle – denn im Boden entscheidet sich, wie nachhaltig unser Essen entsteht.
Zwei Glasrahmen, zwei Böden – und dazwischen Welten. Im linken Rahmen ziehen sich Regenwurmgänge wie feine Tunnel durch die dunkle Erde, durchwoben von Wurzeln, als würde der Boden atmen. Rechts liegt die Erde dagegen starr und geschichtet, dicht gepackt wie erstarrter Ton.
Andreas Chervet von der Fachstelle Boden des Kantons Bern zeigt diesen Kontrast seit fast drei Jahrzehnten mit dem sogenannten Regenwurm-Bodentest auf dem Oberacker. Kaum jemand, der diese beiden Böden gesehen hat, vergisst das Bild. Chervet zeigt damit, dass Bodenbearbeitung nicht nur an der Oberfläche wirkt, sondern bis in die Tiefe.

Der unscheinbare Oberacker verbirgt ein faszinierendes Langzeit-Experiment zur Bodenbewirtschaftung
Am Rand von Zollikofen bei Bern liegt ein unscheinbares Feld: knapp ein Hektar, aufgeteilt in sechs Parzellen. Darauf wachsen Winterweizen, Ackerbohnen, Gerste, Zuckerrüben, Silomais und Erbsen – Kulturen wie im Schweizer Mittelland üblich.
Von der Strasse aus sieht der Oberacker gewöhnlich aus. Doch hinter dem vertrauten Bild verbirgt sich eines der wichtigsten Langzeitexperimente zur Bodenbewirtschaftung im deutschsprachigen Raum.
Seit 1994 vergleichen Forscher hier zwei Systeme: Pflug und Direktsaat. Sie messen Erträge, Bodenleben und Umwelteinflüsse – Jahr für Jahr, Parzelle für Parzelle. Jede Fläche trägt im Laufe der Zeit jede Kultur.
Was schlicht wirkt, ist in Wahrheit ein genau geplantes Freiluftlabor. Andreas Chervet war über viele Jahre sein Hüter – und sein Übersetzer zwischen Boden und Mensch.
Auf dem Oberacker werden Direktsaat und Pflug miteinander verglichen
Als der Versuch 1994 startete, stellten sich die Forscher eine bis heute umstrittene Frage: Kann Landwirtschaft ohne Pflug funktionieren?
Seit Jahrhunderten steht der Pflug für Ordnung. Er wendet die Erde wie eine Rösti in der Pfanne, macht sie locker und krümelig. Doch das Umgraben zerstört die Bodenstruktur, lässt Humus schneller veratmen und fördert Erosion.
Die Direktsaat war in der Schweiz lange kaum bekannt. Sie verzichtet auf Pflug und Grubber: Die Saatkörner gleiten direkt in den Boden, zwischen Stoppeln und Krümel.
Für die Initiatoren des Oberackers stand fest: Nur ein jahrzehntelanger Vergleich kann zeigen, welches System sich bewährt.

Erst mit den Jahren wird sichtbar, wie Pflug und Direktsaat den Boden formen
Seither wächst auf dem Oberacker nicht nur Getreide, Mais und Zuckerrüben – sondern auch ein Archiv aus Zahlen, Proben und Erkenntnissen.
Jedes Jahr sticht Andreas Chervet mit seinem Team Bohrkerne aus dem Boden, zählt Regenwürmer, wiegt Erträge und misst Nährstoffe. Zwischen den Reihen stehen Messgeräte und Markierungsstäbe – stille Zeugen eines Experiments, das in Zeitlupe verläuft.
Was im Alltag verborgen bleibt, zeigt sich hier langsam, Schicht für Schicht: Der Pflug und die Direktsaat formen den Boden, Regenwürmer siedeln sich an oder verschwinden, und der Boden speichert oder verliert Wasser.
Regenwürmer sind stille, aber zuverlässige Arbeiter im Acker
Chervet zeigt im Glasrahmen mit dem Regenwurm-Bodentest ein dichtes Netz aus Gängen, durch das Regenwasser versickert, statt an der Oberfläche abzurinnen. Ihre Ausscheidungen verbinden die Bodenteilchen zu stabilen Krümeln, die wie kleine Schwämme Wasser speichern.
Auch Pflanzenwurzeln helfen mit: Sie halten die Poren offen und hinterlassen nach dem Absterben feine Röhren – neue Wege für Luft und Wasser.
Mehr als 9000 Besucher hat Andreas Chervet bereits über den Oberacker geführt. Immer wieder bleibt er auf dem Feld stehen, hebt ein Stück Erde hoch und sagt: «Hier schreibt der Boden seine Geschichte – wir müssen nur lernen, sie zu lesen.»
Am Ende jeder Führung zeigt Chervet auf die Parzellen: hier der Pflug, dort die Direktsaat. Er lässt die Besucher selbst sehen, worauf es ankommt.

Nach 30 Jahren der Moment der Wahrheit: Was ist besser, Pflug oder Direktsaat?
Der Pflug stellt die Erde bis auf eine Tiefe von 25 Zentimeter auf den Kopf. Danach liegt sie sauber und gleichmässig da.
«Der Pflug bringt höhere Erträge bei Kartoffeln, Zuckerrüben und Mais», erklärt Chervet. «Aber er braucht mehr Überfahrten, schwächt Regenwürmer und Humus – und bei Starkregen droht Erosion.»
Die Direktsaat wirkt unruhiger: Stoppeln ragen, die Oberfläche bleibt rau. Doch unter diesem scheinbaren Durcheinander steckt Stabilität und Leben.
«In einem Quadratmeter Direktsaat-Boden leben doppelt so viele Regenwürmer», sagt Chervet und zeigt auf den Glasrahmen. «Sie graben Wasserkanäle und mischen die Krümel.»
«Im Durchschnitt liefern Pflug und Direktsaat ähnliche Erträge und speichern gleich viel Kohlenstoff», sagt Chervet. «Doch die Direktsaat bringt mehr Regenwürmer, stabilere Krümel und hält das Wasser besser im Boden.»
«Beide Systeme haben ihre Stärken», sagt Chervet. «Die Frage bleibt: Was ist uns langfristig wichtiger?»

Der zweite Konflikt dreht sich um zwei Düngersysteme: GRUD gegen Kinsey
2009 rückte eine neue Frage ins Zentrum: Wie füttert man den Boden richtig? Zwei «Rezepte» standen sich gegenüber – beide wollten dasselbe Ziel erreichen, doch auf ganz verschiedene Weise.
Auf der einen Seite die Grundlagen für die Düngung landwirtschaftlicher Kulturen GRUD, die offizielle Schweizer Empfehlung, nüchtern und solide wie die Rezepte im legendären Schweizer «Betty Bossy Kochbuch»: exakte Mengen, klare Tabellen, alles nach Plan.
Auf der anderen Seite steht die Kinsey-Methode des US-Beraters Neal Kinsey. Sie will die Nährstoffe in ein ideales Gleichgewicht bringen – eine Art Avantgarde-Küche der Agronomie.
Andreas Chervet kennt beide Systeme und hat sie jahrelang verglichen. Noch zeigen die Resultate keine klaren Unterschiede. Doch der Streit bleibt lebendig: Die einen Landwirte schwören auf Kinsey, die anderen auf GRUD.
Auf dem Oberacker laufen beide Wege weiter – präzise dokumentiert, ohne Urteil. Genau darin liegt die Stärke des Experiments: Es beobachtet, statt zu urteilen.

Der Oberacker zeigt nach 30 Jahren, wie Landwirtschaft in Zukunft funktionieren kann
Drei Jahrzehnte nach dem Start liegen die Ergebnisse bereit: Pflug gegen Direktsaat, GRUD gegen Kinsey. Andreas Chervet kennt die Zahlen – aber er weiss, dass sie nur die halbe Wahrheit erzählen.
Am Ende geht es nicht um Sieger oder Verlierer. Der Oberacker zeigt, dass Landwirtschaft keine einfachen Antworten kennt – nur Zwischentöne und Zusammenhänge.
Die Ergebnisse betreffen uns alle. Sie zeigen, wie viel Energie und Wasser in unserem Essen steckt – und wie Böden fruchtbar bleiben können, ohne ausgebeutet zu werden. Regenwürmer und Wurzeln sind dabei die stillen Helfer, die den Boden gesund halten.
Der Oberacker ist unser Fenster in die Zukunft. Der Klimawandel verändert das Klima, die Politik fordert Nachhaltigkeit, und die KonsumentInnen wollen wissen, woher ihr Essen kommt. Wer versteht, was auf dem Oberacker geschieht, versteht auch, wie eng das eigene Essen mit der Erde verbunden ist.


