Mit fast vergessenen Mais-Sorten wird die beste Tessiner Polenta gekocht
In der Tessiner Magadino-Ebene werden alte Mais-Sorten angebaut und zu Polenta verarbeitet. Geniesser entdecken das «Brot für Arme» neu – weshalb sich die Polenta-Produktion auch für die Bauern lohnt.

Gleich zu Anfang eine Enttäuschung: Polenta (lat. puls) war zwar schon bei den alten Römern ein Hauptnahrungsmittel – aber die Römer kochten sie aus Hirse, Dinkel, Emmer oder Kichererbsen-Mehl.
Erst im Jahr 1496 brachte Christoph Kolumbus den Mais von San Salvador nach Europa. Er glaubte damals, er hätte eine Hirseart entdeckt. Shit happens, Kolumbus glaubte ja auch, er hätte Indien entdeckt.
Tatsächlich hatten die Indios (Inder) der mittelamerikanischen Hochkulturen der Maya, Azteken, Inka und Tolteken schon 5000 vor Christus aus wildem Mais den ersten Kulturmais mit damals nur 7 Zentimeter kleinen Maiskölbchen gezüchtet.
In Europa wurde die Pflanze denn auch nach der indianischen Bezeichnung Mahiz genannt. Und im 18. Jahrhundert erhielt der Mais durch den Botaniker Carl von Linné die Bezeichnung Zea Mays, wobei Zea korrekt für die Familie der Süssgräser steht.
Polenta war über Jahrhunderte ein Armeleutegericht
Von Spanien aus verbreitete sich der Mais innerhalb weniger Jahrzehnte über den gesamten Mittelmeerraum. Besonders intensiv wurde er in der Türkei angebaut, weshalb der Mais im vermeintlichen Polenta-Mutterland Italien immer noch als granoturco (Türkisches Korn) bezeichnet wird.
Vom Veneto und vom Friaul über die Lombardei, das Tessin und Graubünden bis ins Veltlin war die Polenta seit dem 17. Jahrhundert das «Brot für Arme». Und hat deshalb bis heute den Nachgeschmack eines Armeleutegerichtes – die Süditaliener nennen ihre nördlichen Landsleute abfällig polentoni (Polentafresser).

Die Nonna rührte die Polenta stundenlang im Kupferkessel über dem Holzfeuer
Heute ist der gekochte Mais-Griess dagegen eine kulinarische Spezialität für Geniesser. Immer mehr auch bei uns Zücchin (Kürbisköpfen) nördlich vom Gotthard.
Eine gute Polenta zu kochen, ist aber schwieriger als zur «guten alten Zeit» – die oft alles andere als gut war. Damals musste die Nonna den Mais-Griess im verzinnten Kupferkessel über dem Holzfeuer stundenlang immer in die gleiche Richtung rühren.
Eine gute Polenta zu kochen ist auch schwierig, weil der Griess frisch sein muss. Die ungesättigten Öle im Maiskorn geben der Polenta den typischen Geschmack, werden aber auch schnell ranzig. Polenta für den Supermarkt ist so verarbeitet, dass sie lange haltbar bleibt und in drei bis zehn Minuten gekocht ist – was den Geschmack nicht verbessert.
Mit Unternehmergeist zum «Farina per Polenta Ticinese»
Selbst im Tessin war es lange schwierig, richtig gute Polenta zu kaufen. Bis 1998 das Projekt «Farina per Polenta Ticinese» gegründet wurde, das auf den Versuchen im Agroscope-Campus di ricerca in Cadenazzo TI basierte.
Mit viel Unternehmergeist nahm der ETH-Agronom Paolo Bassetti die Herausforderung an, der Tessiner Polenta wieder zu ihrem einstigen Ruhm zu verhelfen.
2002 gründete er seine eigene Firma, die Paolo Bassetti – prodotti e servizi agricoli. Schritt für Schritt baute er die Produktion aus. Angefangen beim Anbau von hochwertigem Tessiner Mais, über die sorgfältige Ernte und manuelle Sortierung der Maiskolben sowie die Mühle bis zum Vertrieb des fertigen Polenta-Griess.

Ausgesuchte Hartmais-Sorten werden aufwändig verarbeitet
Den Mais liefern 15 Produzenten aus der Region. Genauer aus der Magadino-Ebene, die sich vom Lago Maggiore 15 Kilometer bis zur Kantons-Hauptstadt Bellinzona erstreckt. Denn Paolo Bassetti will nicht nur die beste Qualität, sondern auch wirtschaftlich tragfähige Bedingungen für die lokalen Mais-Produzenten.
«Wir bauen Hartmais-Sorten an, die sich deutlich vom Futtermais unterscheiden», erklärt Paolo Bassetti. Das Korn der Hartmais-Sorte hat eine glasigere Beschaffenheit, die Fruchtschale des Korns ist dicker und verleiht der Polenta nach der Verarbeitung Struktur. Der weiche Kern sorgt für den Geschmack.
«Für die Qualität des Endproduktes ist der Ernteprozess entscheidend», erläutert Bassetti. Der Mais wird nicht auf dem Feld gedroschen, sondern die Kolben werden ganz geerntet und von den Produzenten vorgereinigt. Jeden Herbst liefern die Produzenten im Verarbeitungszentrum in Cadenazzo 200 bis 250 Tonnen Hartmais an.
Im Verarbeitungszentrum werden die Kolben gründlich auf ihre Qualität kontrolliert. Von Hand werden verschimmelte oder mangelhafte Kolben aussortiert. Dann kommen die Kolben in Trocknerzellen. Erst danach werden sie gedroschen und weiter gesiebt, um missgebildete Körner oder andere Verunreinigungen zu entfernen.
Die Maiskörner werden «just in time» gemahlen, damit der Griess frisch ist
In einer nahe gelegenen kleinen Mühle werden die Maiskörner «just in time» gemahlen, also je nach Nachfrage. So kann Paolo Bassetti die verarbeitete Menge an die Nachfrage anpassen und die Frische des Produktes gewährleisten. Wir erinnern uns: Der Griess muss frisch sein, weil das Maiskorn viele ungesättigte Öle enthält, die relativ schnell ranzig werden.
«Wir vermahlen das ganze Korn, so wie es unsere Tessiner Tradition vorschreibt», erklärt Paolo Bassetti. «Die gröberen Teile (der Griess) geben der Polenta die Struktur und die Festigkeit, die feineren Teile verleihen der Tessiner Polenta ihren einzigartigen Geschmack und ihre hohe Qualität.»

Im Tessin wird weisse, gelbe, rote und schwarze Polenta produziert
Von den über 200 Mais-Sorten pflegt Bassetti die traditionellen Tessiner Sorten. Diese bieten bei den Körnern und infolge dessen auch im Geschmack eine grosse (Farb-)Palette an:
Weisse Polenta (wie in Venezien als Beilage zu Fisch und Meeresfrüchten)
Gelbe Polenta
Rote Polenta («Rosso del Ticino»)
Schwarze Polenta («Polenta nera»)
Diese Mais-Sorten unterscheiden sich sensorisch, aber auch in der antioxidativen Wirkung. Je mehr Farbpigmente, desto dunkler die Körner und umso stärker der antioxidative Effekt.
Für die schwarze Polenta («Polenta nera») wird übrigens nur im Tessin die alten Maissorte «Millo corvo» angebaut – und diese wird als gekochte Polenta überraschend lila. In anderen Regionen, zum Beispiel im Bündner Südtal Valposchiavo ist wird «Polenta nera» aus Buchweizen-Mehl gekocht, was Ihr die dunkle Farbe und herzhaften Biss gibt.

Seit 2002 wird die fast vergessene Mais-Sorte «Rosso del Ticino» wieder angebaut
Eine andere Mais-Sorte – die «Rosso del Ticino» – war beinahe in Vergessenheit geraten, als die Stiftung Pro Specie Rara in den 1970er-Jahren Samen dieser Sorte bei alten Tessiner Bauern entdeckte, welche diese noch für sich selbst anbauten.
Man erkannte die hervorragenden Qualitätseigenschaften der «Rosso del Ticino» für die Herstellung von Polenta-Griess und startete 2002 ein Projekt zur Wiedereinführung der alten Mais-Sorte.
Paolo Bassetti war massgeblich an der erneuten Reinzucht der Sorte beteiligt. Zuerst lag der Fokus auf der Produktion von Qualitäts-Saatgut. Schon 2004 wurde die «Rosso del Ticino» wieder in der Magadino-Ebene angebaut. Deren Maiskolben haben eine intensive, dunkle Rotfärbung – der Mehlkörper ist aber gelb. So entsteht ein zweifarbiger Mais-Griess.
Die «Rosso del Ticino» wird heute mit grösstem Respekt vor der Tradition angebaut und verarbeitet. Die für das Tessin typische Vollkorn-Vermahlung garantiert einen höheren Nährwert, die Vermahlung des ganzen Korns verleiht dem Polenta-Griess auch seinen einzigartigen Geschmack.

Die Bassetti-Polenta ist Bio und naturgemäss auch glutenfrei
Die Polenta von Paolo Bassetti trägt seit 2002 die Bio Suisse-Knospe und seit 2005 auch das Label für glutenfreie Produkte.
Dafür kann Bassetti für seine Produkte auch gute Preise verlangen. Die Polentoni im Tessin und die Zücchin nördlich des Gotthards reissen ihm den Mais-Griess sprichwörtlich aus den Händen.
«Für die Zubereitung braucht es heute übrigens keinen Kupferkessel über dem Holzfeuer und auch keine Nonna, welche die Polenta stundenlang immer in die gleiche Richtung rührt», erklärt Bassetti schmunzelnd.
Und ob der Griess grob, mittel oder ganz fein gemahlen sein soll, ist Geschmackssache. «Ich habe lieber die grobgemahlene Bramata», erklärt Paolo Bassetti. Nur die Instant-Polenta aus dem Supermarkt, die kommt ihm nicht in seine Küche. «40 Minuten in der Teflonpfanne rühren, soviel Zeit muss sein.»


