Wildschweine pflügen Felder um – und nichts kann sie aufhalten
Wildschweine verursachten in der Schweizer Landwirtschaft seit 2010 über 41 Millionen Franken Schäden. Am schlimmsten nördlich der Autobahn A1 von der Waadt über Bern und Zürich bis in den Thurgau.

Vor mir im Wald riecht es penetrant nach Maggi. Genau genommen nach dem Aromastoff Sotolon, der wie die Maggi-Würzsauce oder das Maggi-Kraut (Liebstöckel) riecht. Hinter den Büschen essen aber keine Pfadfinder ihre Suppe aus der Gamelle – dort verstecken sich Wildschweine.
Wenn Wildschweine aggressiv sind, werden sie im wörtlichen Sinne stinkig. Hinter den Büschen steckt also ein Problem: eine Bache (Muttertier) mit ihren Jungtieren. Ein Problem, das 150 Kilo schwer ist, mit einem kräftigen Gebiss und scharfen Eckzähnen – und mit 40 Stundenkilometern so schnell wie ein E-Bike.
Disclaimer: Die Wildschwein-Bilder habe ich aus Sicherheitsgründen in einem Gehege fotografiert. Ich publiziere sie deshalb bewusst als Schwarzweiss-Bilder – abgesehen davon passt das ganz gut zum Schwarzwild.
Rechtsumkehrt! Zurück zur Landwirtin, auf deren Äckern im Kanton Zürich der Rest der Wildschwein-Rotte (Gruppe bis 25 Tiere) wütet. Mit Rüssel und Eckzähnen wühlen die Wildschweine nach Engerlingen, Würmern und Mäusen. Sie sind scharf auf dieses tierische Eiweiss unter dem Boden. Und auf die landwirtschaftlichen Kulturen wie Mais und Kartoffeln, Weizen und Raps sowie Zuckerrüben.

Die Landwirtin hat ihre Zuckerrüben mit einem dreifach gespannten und mit 10‘000 Volt extra starken elektrischen Weidezaun gesichert. Dessen blauen Litzen berührt man besser nicht, das fitzt saumässig. Die Wildschweine marschieren einfach durch.
Und vom akustisch-optischen Wildschwein-Schreck am Feldrand bekommen Wanderer fast einen Herzinfarkt, die Wildschweine lassen sich aber nicht beeindrucken. «Nichts kann die Wildschweine aufhalten», klagt die Landwirtin, «es kommen immer mehr!»
Nicht einmal die Autobahn A1 kann die Wildschweine aufhalten
Dabei galt die Wildschweine in der Schweiz im 20. Jahrhundert als ausgerottet. Abholzung und Übernutzung der Wälder sowie Jäger machten den Wildschweinen den Garaus.
Gejagt wurde das Schwarzwild, wie die Tiere ihrer Fellfarbe wegen auch genannt werden, weil die Jäger mit einem einzigen erlegten Tier ihre Familien wochenlang ernähren konnten. Ein Überläufer (Einjähriger) mit 60 Kilo Lebendgewicht bringt 24 Kilo bestes Fleisch und dazu bis zu 10 Kilo Speck.
Erst in den 1920er-Jahren kamen aus Frankreich, Deutschland und Italien wieder Wildschweine in die Schweiz. In den 1980er-Jahren stieg der Bestand stark an und ab dem Jahr 2000 explodierte die Population regelrecht. Die bevorzugten Reviere vom Schwarzwild in der Schweiz sind:
Jurabogen (Waadt, Neuenburg, Jura, Bern)
Mittelland (Solothurn, Aargau, Zürich, Thurgau)
Unterwallis (Wallis)
Malcantone (Tessin)

Im Mittelland wurden die Wildschweine lange von der Autobahn A1 zurückgehalten. Seit einigen Jahren nutzen sie aber frech Unterführungen und Autobahn-Brücken, um auf die Südseite der A1 zu kommen.
Wie gross die Schwarzwild-Population in der Schweiz heute ist, kann nur geschätzt werden. Sicher ist, dass es immer mehr werden. Fachleute gehen davon aus, dass sich die Zahl seit dem Jahre 2000 von 10’000 auf über 30’000 Wildschweine erhöhte.

Fünf Gründe, warum die Wildschwein-Population explodiert
Die Bestandeszunahme der Wildschwein-Population hat fünf Ursachen, die zusammenspielen:
In der modernen Landwirtschaft finden die Wildschweine ein reiches Nahrungsangebot mit Mais, Weizen, Raps, Kartoffeln und Zuckerrüben.
Im Wald sorgt der Klimawandel für mehr sogenannte Mastjahre von Buchen und Eichen. Früher wurden in solchen Jahren die Hausschweine zur Mast in den Wald getrieben, um sie mit Buchennüssen und Eicheln zu füttern. Heute fressen sich die Wildschweine daran satt.
Weil es in der Landwirtschaft und im Wald mehr Futter gibt (Punkt 1 und 2), werden die weiblichen Jungtiere oft schon mit sechs Monaten trächtig und werfen das ganze Jahr über Frischlinge.
Mit dem Klimawandel gibt es immer mildere Winter, so dass die Frischlinge kaum dezimiert werden.
Jäger bevorzugen wegen der imposanten Hauer als Trophäen die Keiler (männliche Wildschweine). Ohne konsequente Bejagung der weiblichen Jungtiere verdreifacht sich die Population aber in einem Jahr.
Die ersten vier Punkte sind menschengemacht und nicht mehr rückgängig zu machen. Der fünfte Punkt hingegen – die konsequente Bejagung der weiblichen Jungtiere – wäre machbar. Die Schweizer Jäger erlegten 2022 aber nur:
49 Prozent Jungtiere
26 Prozent Keiler
25 Prozent Bachen
Für die Bestandesregulierung der Wildschweine hätte die optimale Jagdstrecke:
80 Prozent Jungtiere
15 Prozent Bachen
5 Prozent Keiler
Es sind aber alle fünf Punkte zusammen, die verheerende Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben.

Einzelne Landwirte haben Wildschwein-Schäden bis 25‘000 Franken pro Jahr
Wildschweine durchwühlen oft «nur» die obersten 5 Zentimeter der Bodenschicht, das dafür über ein ganzes Feld. Und wenn ihr guter Geruchssinn Mäuse anzeigt, graben Sie mit Eckzähnen und Rüsseln bis zu zwei Quadratmeter grosse und 60 Zentimeter tiefe Krater.
Ein Wildschwein durchwühlt täglich 120 Quadratmeter. Ein einziges Wildschwein zerstört pro Jahr eine Ackerfläche von 4,4 Hektaren oder sechs Fussballfeldern, eine Rotte (Gruppe bis 25 Tiere) pflügt pro Jahr 154 Fussballfelder um.
Die Landwirtin, welche mir die Wildschwein-Schäden zeigt, hat Tränen in den Augen: «In meinen Äckern und Kunstwiesen habe ich nicht nur eine Rotte, sondern gleich drei Rotten!» Und diese verursachen alleine auf ihrem Betrieb im Kanton Zürich jedes Jahr einen direkten Schaden von über 10‘000 Franken.
Dazu kommen die langfristigen Folgekosten. Im verregneten Frühling 2024 konnte die Landwirtin mit dem Traktor nicht auf die durchnässten Wiesen, um die Schäden zu beheben.
Selbst im besten Fall eines trockenen Frühlings müssen die Kühe mit Erde verschmutztes Gras fressen. Weil deshalb jede ihrer 30 Milchkühe jährlich 1000 Liter weniger Milch gibt, verliert die Zürcher Landwirtin weitere 15‘000 Franken pro Jahr.

Gesamtschweizerisch verursachten Wildschweine 2010-2022 über 41 Millionen Franken Schäden
Betroffen sind nicht «nur» einzelne Landwirte, sondern ganze Regionen. Die Eidgenössische Jagdstatistik berechnet von 2010 bis 2022 gesamtschweizerisch jährliche Wildschwein-Schäden von 2,6 bis 4,3 Millionen Franken, zusammengerechnet über 41 Millionen Franken. Am schlimmsten erwischt es von 2010 bis 2022 die Kantone:
Aargau: 6,7 Millionen
Waadt: 6,7 Millionen
Thurgau: 4,9 Millionen
Jura: 4,2 Millionen
Zürich: 3,8 Millionen
Tessin: 3,2 Millionen
Die Entschädigungen sind kantonal geregelt und sehr unterschiedlich. Die einzige Konstante: Entschädigungen werden nur ausgezahlt, wenn Landwirte und Jäger «zumutbare Massnahmen zur Verhinderung» getroffen haben.
Wenn ein Landwirt nicht mehrere tausend Franken in superstarke Weidezaungeräte, Photovoltaikanlagen, kilometerweise spezielle Litzen und Abschreckgeräte investiert hat, und wenn die Jäger auf seinem Land keine Hochsitze aufgestellt haben, gibt es keine Entschädigung. Die langfristigen Folgekosten werden gar nicht entschädigt.

Die Jäger gehen mit Nachtsichtgeräten auf die Wildschwein-Jagd
Die Abschusszahlen schwanken gemäss der Eidgenössischen Jagdstatistik seit 2010 von Jahr zu Jahr. Im schwächsten Jahr 2011 wurden nur 4263 Wildschweine erlegt, im stärksten Jahr 2021 fast 13’000 Wildschweine. Im jährlichen Durchschnitt beträgt die Jagdstrecke 8259 Wildschweine. Nach Ansicht der Landwirte viel zu wenig.
Das Schwarzwild ist scheu, schlau und äusserst lernfähig. In ihren Hochsitzen am Feldrand müssen die Jäger oft tagelang ansitzen (warten). Wenn die Rotte endlich ins Schussfeld kommt, darf nicht jedes Tier erlegt werden. Schiesst ein Jäger eine Muttersau ab, die ihren Jungen Milch gibt, droht ihm eine empfindliche Busse.
Um die Wildschwein-Jagd effizienter zu machen, erlauben einzelne Kantone die Nachtjagd und Nachtsichtgeräte. Und sie lockern die Schonzeit, die normalerweise von Februar bis Juni dauert. Frischlinge und Überläufer dürfen sogar in der Schonzeit erlegt werden.

Die Jagdgesellschaften müssen über ihre Reviere hinaus kooperieren
Die Jagd auf das Schwarzwild muss aber intensiver werden, sonst werden die Wildschwein-Bestände und deren Schäden weiter ansteigen. «Der Erfolg in der Wildschwein-Jagd ist auch eine Frage des Jagdsystems», erklärt Martin Baumann vom Bundesamt für Umwelt BAFU. Denn je nach Kanton haben wir in der Schweiz eine Patentjagd oder Revierjagd:
Bei der Patentjagd dürfen patentierte Jäger während der Jagdsaison im Herbst im ganzen Kanton jagen. Patentjagd kennen die Kantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, Bern, Fribourg, Glarus, Graubünden, Jura, Neuenburg, Nidwalden, Obwalden, Schwyz, Tessin, Uri, Waadt, Wallis, Zug.
Bei der Revierjagd verpachten die politischen Gemeinden das Jagdrecht revierweise an eine Jagdgesellschaft. Die Jäger dürfen in ihrem Revier, abgesehen von den Schonzeiten im Frühling, das ganze Jahr jagen.
«In Kantonen mit Patentjagd ist die Wildschwein-Population meist besser unter Kontrolle», weiss Martin Baumann, «weil dort der Jagddruck höher ist als bei der Revierjagd.» Aber auch mit Revierjagd sei es möglich, effizient Wildschweine zu jagen, wenn die Jagdgesellschaften über ihre Reviere hinaus kooperieren und andere Methoden einsetzen.

Künftig stöbern speziell ausgebildete Jagdhunde die Wildschweine auf
Künftig werden deshalb neue «Jäger» auf die Wildschweine losgelassen: speziell ausgebildete Jagdhunde. Damit diese Stöberhunde von den Wildschweinen nicht verletzt werden – 150 Kilo Wildschwein mit scharfen Eckzähnen stehen 25 Kilo Jagdhund gegenüber – müssen die Hunde den richtigen Umgang mit dem Schwarzwild lernen.
Dafür wurde als nationales Projekt 2019 in Elgg ZH ein Schwarzwild-Gewöhnungsgatter eröffnet. Auf dem sechs Hektaren grossen Trainingsgelände lernen Jagdhunde, die Wildschweine schnell aufzufinden, sie aus dem Gestrüpp zu treiben – und dennoch einen respektablen Abstand einzuhalten.
Mit solchen Jagdhunden können Jagdgesellschaften die Wildschweine vor allem im Winter sehr effizient tagsüber jagen. Und im Sommer können sie das Schwarzwild aus den landwirtschaftlichen Kulturen vergrämen. Ein Lichtblick für die verzweifelte Landwirtin, auf deren Bauernhof die Wildschweine mitten am Tag schon den Garten umgraben.


