Der «Alpahirt» produziert aus alten Weidekühen und ohne Pökelsalz edles Trockenfleisch
Adrian Hirt produziert aus alten Weidekühen edles Trockenfleisch. Der «Alpahirt» bricht mit der Logik der industriellen Fleischproduktion. Stattdessen zählt er auf Grasland, Bergluft und Mikroflora.

Kurz & bündig
«Alpahirt» heisst das Trockenfleisch aus Graubünden, das aus alten Mutterkühen ohne Pökelsalz und andere Zusatzstoffe produziert wird.
Das «Rezept»: Weidehaltung, regionale Schlachtung und traditionelle Trocknung in der Fleischtrocknerei Sialm beim Oberalp-Pass, dort wo der Rhein entspringt.
Das von «Alpahirt» produzierte Naturfleisch bedeutet Wertschöpfung im Ursprungsgebiet statt industrieller Massenproduktion.
Warum Trockenfleisch aus alten Weidekühen aromatischer ist – und was die Mikroflora in einem alten Holzhaus damit zu tun hat.
An einem eiskalten Wintermorgen steht Landwirt Erwin Cathomen im Stall. Die Atemwolken der Tiere hängen schwer in der Luft, irgendwo klirrt Metall. Vor ihm steht eine seiner Mutterkühe, die seit Jahren zuverlässig gekalbt hat – bis jetzt.
Sie hat acht Kälber grossgezogen, doch diesmal wurde sie nicht mehr trächtig. Für Cathomen ist es der Moment, den jeder Mutterkuh-Halter kennt und keiner mag: der Abschied.
Dann ruft er Adrian Hirt an – den «Alpahirt». «Ich kaufe das ganze Tier von der Zunge bis zum Schwanz und verarbeite es vollständig. Von edlem Trockenfleisch über Würste bis zum Rindertalg», sagt Adrian Hirt.
Er bezahlt mehr als der Markt. «Und Hirt bezahlt sofort», sagt Cathomen, «was im Viehhandel nicht üblich ist».
Für Cathomen bedeutet das Wertschätzung. Für die Kuh ein Lebensende ohne lange Transporte. Und für Hirt ist es ein weiterer Schritt in einer Kette, die er zurück zum Ursprung führen will.

Was Mutterkühe von Milchkühen unterscheidet
Mutterkühe säugen ihre Kälber selbst und werden im Unterschied zu Milchkühen nicht gemolken.
Diese Hochleistungs-Milchkühe brauchen energiereiches Kraftfutter, um pro Tag 40 Liter Milch für den Menschen zu produzieren.
Mutterkühe fressen ausschliesslich Gras und Heu, weil sie keine Hochleistung erbringen müssen. Über Jahrhunderte wurden sie dafür zu Weidekühen gezüchtet.
Sie nutzen Flächen, auf denen kein Ackerbau möglich ist, und bewegen sich bis zu 13 Kilometer am Tag. Dabei verwandeln sie kräuterreiche Wiesen in Milch für ihr Kalb und in Fleisch – ohne Futterkonkurrenz zum Menschen.
Der «Alpahirt» produziert Naturfleisch von lokalen Mutterkühen
Der «Alpahirt» schreibt sich im lokalen Dialekt des Kantons Graubünden mit «a» und verkauft seine Produkte als Naturfleisch. Der Begriff ist nicht geschützt, aber Adrian Hirt definiert ihn klar:
Lokale Mutterkühe aus Weidehaltung, regionale Schlachtung.
Verarbeitung ohne Pökelsalz, das in der Fleischindustrie für rote Farbe und einen standardisierten Geschmack sorgt. Und ohne Zucker für kontrollierte Fermentation und milderen Geschmack.
Hirt verzichtet bewusst auf beides. Damit ist er im Alpenraum und darüber hinaus so ziemlich alleine auf weiter Flur.

Der «Alpahirt» entstand in einer alten Holzkammer im Bergdorf Maladers
Die Geschichte des «Alpahirt» beginnt nicht mit einer Geschäftsidee, sondern vor über 100 Jahren in Maladers (1000 m ü. M.), dem sonnigsten Dorf im Kanton Graubünden. Dort produzierte Hirts Urgrossvater Anton mit einfachsten Mitteln Trockenfleisch. Sein Sohn verliebte sich in ein Mädchen auf der anderen Talseite, weshalb er nach Tschiertschen (1350 m ü. M.) zog.
Aber auch Anton Junior zerlegte jeden Herbst den Stotzen (Keule oder Oberschenkel) einer alten Kuh auf dem Küchentisch, salzte die Stücke im Keller ein, übergoss sie mit Rotwein und hängte sie im «Fleischkämmerli» auf. Dieses Bindenfleisch trocknete in der klaren Bergluft während den Wintermonaten.
Heute produziert die Fleischindustrie Bündnerfleisch grösstenteils aus importiertem Rindfleisch – aus Deutschland, Argentinien oder Brasilien –, mit Pökelsalz für die Farbe, Zucker für die Milde und Pressformen für den Transport.
Damals war Bündnerfleisch kein Industrieprodukt. Es hiess auch Bindenfleisch; der Begriff Bündnerfleisch entstand erst in den 1970er-Jahren als Marketingname. Der Name Bindenfleisch bezieht sich auf die Leinentücher (Binden) mit denen das Fleisch umwickelt und zur Trocknung aufgehängt wurde.
Im Unterschied zum rechteckig gepressten Industrieprodukt war Bindenfleisch dunkler, unregelmässiger und aromatischer – und näher an der Landschaft, aus der es kam.

Der «Alpahirt» produziert handwerkliches Trockenfleisch aus Fleisch, das mit Würde entstanden ist
Adrian Hirt wächst mit diesem Kreislauf auf: Kälbchen, Weidekuh, der Tag des Abschieds, das Trocknen in der Holzkammer. Später wird er Chemielaborant, studiert Lebensmitteltechnologie, arbeitet in Nordamerika und in der Schweiz.
Überall sieht er dieselbe Logik: schneller, standardisierter, günstiger. Die Herkunft verliert an Bedeutung, die Tiere verschwinden in der Masse. «Aus diesem Grund habe ich mich als Vegetarier versucht, blieb es aber nicht lange.»
Bis Hirt 2014 den «Alpahirt» gründete – mit dem Konterfei seines bärtigen Urgrossvaters als Logo. Sein Ziel: das handwerkliche Trockenfleisch zurückholen. Aus Fleisch, das mit Würde entstanden ist. Ohne Zusatzstoffe, ohne Beschleunigung, ohne Austauschbarkeit. Seither isst er wieder mit gutem Gewissen Fleisch.

Fleisch von Mutterkühen auf Bergweiden statt von Mastkühen aus dem Stall
Wer die Tiere sieht, die Hirt ankauft, erkennt sofort: Das sind keine Mastrinder, die nur ein Jahr leben. Es sind Weidekühe, die durchschnittlich zehn Jahre in der Herde leben – mit ihren Kälbern und einem Stier, mit Rangordnung und Sozialverhalten. Sie fressen Gras, Kräuter und Bergpflanzen – nur Futter vom eigenen Hof, kein importiertes Kraftfutter.
«Den Kühen Getreide zu geben, also menschliche Nahrung, ist Unsinn», sagt Hirt. Seine Logik ist simpel: «Weidekühe nutzen das, was der Mensch nicht essen kann.»
In vielen Alpenregionen dominiert Grasland; ein grosser Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche besteht aus Wiesen und Weiden. Ohne Kühe würden die Flächen verbuschen, die Biodiversität sinken und der CO₂-Speicher Grasland Schaden nehmen.
Aus den Weidekühen wird statt Billigwurst ein hochwertiges Trockenfleisch
Weidekühe gehören zu einem landwirtschaftlichen Kreislauf, der Boden aufbaut und nicht zerstört. Sie düngen die Weiden, lockern den Boden mit ihren Klauen und fördern die Pflanzenvielfalt.
Für den zweifachen Vater Adrian Hirt gehört die Kuh zu einer Landwirtschaft, die «enkeltauglich» ist – ein oft überstrapazierter Begriff, den er präzise gemeint.
Die Landwirte schätzen diese Haltung. «Mir ist wichtig, dass aus meinen Tieren etwas Wertvolles wird», sagt Cathomen. Früher landeten seine alten Mutterkühe im Wurstkessel eines Grosshändlers. Beim «Alpahirt» werden sie ein Produkt, das ihren Wert widerspiegelt.
Das überzeugte sogar eine kritische vegetarische Journalistin. Nach ihrem Besuch beim «Alpahirt» schrieb sie: «Fleischkonsum ist nicht schwarz-weiss – Adrian Hirt füllt den Graubereich mit Farbe.»

Die Landwirte begleiten ihre Mutterkühe ein Leben lang – vom Hof bis zum Schlachthof
Die Landwirte bringen ihre Tiere selbst in eines der vier regionalen Schlachthäuser, mit denen der «Alpahirt» zusammenarbeitet. Es ist ein kurzer Weg, manche brauchen nur wenige Minuten. Der letzte Moment des Tieres soll so ruhig wie möglich sein.
«Ein langer Tiertransport und das Warten in einem industriellen Schlachthof bedeutet Leiden», sagt Landwirt Cathomen. Er kennt jede Kuh und weiss, welche stur ist und welche zutraulich. Vor dem Schlachthaus hält er inne und sammelt sich, bevor er sie gehen lässt.
Auch für Hirt bleibt das der härteste Teil seiner Arbeit. Aber genau darin sieht er den Respekt, den er in der industriellen Fleischproduktion vermisst: Das Tier bleibt bis zuletzt Teil desselben Kreislaufs – nicht das Ende einer anonymen Lieferkette.

Das Geheimnis der Fleischtrocknerei Sialms ist die mikrobakterielle Hausflora und trockene Bergluft
Nach dem Schlachten bringt Hirt das Fleisch in die Fleischtrocknerei Sialm in Segnas (1300 m ü. M.) kurz vor dem Oberalp-Pass, dort wo der Rhein entspringt. Davina Sialm führt die Trocknerei in dritter Generation.
«Dieses alte Haus hat seine eigene Handschrift», sagt sie. In den Holzwänden steckt eine mikrobielle Hausflora, die seit Jahrzehnten wächst und jedes Stück Fleisch prägt. Sie besteht aus Hefen, Schimmel und Bakterien – eine Mischung, die kein Edelstahl in der industriellen Produktion erzeugen kann. Diese Mikroflora sorgt dafür, dass das Fleisch trocknet und Aroma entwickelt.
Davina Sialm salzt das Fleisch drei Wochen lang ein, aber pökelt es nicht. «Mein Urgrossvater hatte auch kein Pökelsalz», sagt Hirt. Zudem können Menschen auf nitritgepökelte Produkte mit Kopfschmerzen und Unwohlsein reagieren.
Dann hängen die Fleischstücke in der Trocknungskammer im klaren, trockenen Bergwind. Sie reifen ohne Pressform, ohne Beschleunigung und ohne Zusatzstoffe. Die Stücke formen sich wie knorrige Äste, bleiben innen feucht und entwickeln Aromen aus Raum, Zeit und Mikroorganismen. «Die Kunst liegt nicht im Hinzufügen, sondern im Weglassen», sagt Hirt. Das ist der Kern des Naturfleischs.
Ironischerweise darf der «Alpahirt» sein Trockenfleisch nicht Bünderfleisch nennen. Er müsste dafür die naturbelassenen Fleischstücke in eine rechteckige Form pressen. Hirt verkauft seine Edelstücke als «Bergfleisch» (vom Stotzen) oder «Veltliner Säumer» (vom Rindsfilet).
Der «Alpahirt» produziert Trockenfleisch, luftgetrocknete Rohwürste und neu auch Frischfleisch
Der «Alpahirt» produziert längst mehr als Trockenfleisch: luftgetrocknete Rohwürste, Bratwürste und Rindshackfleisch. Alles Naturfleisch.
Diese Qualität hat ihren Preis: Eine alte Kuh kostet pro Tier mehr als ein Jungtier, bringt weniger Ertrag und braucht mehr Zeit in der Verarbeitung.
Für Konsumenten wirkt das zuerst teuer – bis man versteht, warum das Fleisch anders schmeckt. Jungtiere haben mehr Wasser und weniger Bindegewebe: ihr Fleisch ist zart, hell, mild, aber flach.
Bei alten Mutterkühen verändert sich die Fleischstruktur: weniger intrazelluläres Wasser, stärker vernetztes Bindegewebe, mehr Myoglobin und mehr Umami (ein herzhafter, würziger Geschmack). Das Fleisch wirkt dunkler, dichter, aromatischer. Köche schätzen es wegen seines Eigencharakters.
Seine Produkte verkauft der «Alpahirt» an Wochenmärkten, über regionale Ladengeschäfte sowie über seinen Online-Shop.

Der «Alpahirt» zeigt, dass Fleischqualität nicht aus Optimierung entsteht, sondern aus Beziehung zu Landschaft, Tieren und Menschen
Adrian Hirt wertet nicht zufällig alte Kühe auf. Er ist in einem Bergdorf aufgewachsen, in dem Trockenfleisch noch Handwerk ist: Qualität entsteht aus Geduld und Herkunft. Später in der Fleischindustrie erlebte er die Gegenlogik: schnelles Fleisch, Zusatzstoffe, Importware, verlorene Herkunft.
Diese Erfahrung führte zu einem Bruch mit dem System. Deshalb gründete er 2014 den «Alpahirt», um die Wertschöpfungskette wieder an den Ursprung zu binden. Das Ergebnis ist ein Modell, das zeigt, dass Fleischqualität nicht aus Optimierung entsteht, sondern aus Beziehung zur Landschaft, zu den Tieren und zu den Menschen, welche die Tiere halten.

Was bedeutet der «Alpahirt» für die Ernährungswende?
Was bei Hirt entsteht, beginnt am Ende eines Tierlebens – dort, wo das System unsichtbar wird. Wenn eine alte Weidekuh nicht im Wurstkessel landet, sondern als hochwertiges Naturfleisch geschätzt wird, entsteht ein Anreiz für Weidehaltung, Grasland-Nutzung und regionale Kreisläufe.
Mit dem höheren Ankaufspreis erhält Landwirt Erwin Cathomen ein Signal: alte Kühe sind keine Belastung, sondern Ressource. Die Graslandschaften gewinnen an Wert und bleiben erhalten. Und ohne Pökelsalz, Zucker oder Pressformen wird das Naturfleisch wieder abhängig vom Ursprungsort – nicht vom globalen Rohstoffmarkt.
Adrian Hirt stellt damit nicht einfach ein anderes Fleisch her. Er formuliert eine Gegenlogik zum gängigen Produktionssystem: Grasland statt Kraftfutter-Importe. Lange Lebenszeit statt schneller Ausmast. Mikroflora statt Zusatzstoffe. Regionale Wertschöpfung statt globaler Austauschbarkeit.
Das ist keine Romantik. Es hat strukturelle Wirkung.



Sehr guter Artikel und so einfühlsam formuliert - danke dafür. Bereitete mir viel Freude, ihn zu lesen und etwas über die Einstellung und Wertschätzung aller im Kreislauf Beteiligten zu erfahren.
Hast du das Fleisch gekostet? Ist es sehr intensiv?